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Vergänglichkeit
 

Kalt und noch grau ist dieser Herbstmorgen.

Die Finger klamm von der Frische an diesem Tagesbeginn.

Der Schatten umgibt mich noch, doch der Sonnenstrahl ist nur noch einen Fussbreit von mir entfernt.

 

Schlagartig wird mir klar und es stimmt mich traurig, was ich nicht wahrgenommen habe:

Die wärmende Sonne und die Blütenpracht,

mit all diesen wunderbaren Farben in diesem Sommer.

Den leichten Flügelschlag der Schmetterlinge, das sommerliche Konzert der Vögel.

Die flimmernde Hitze der Mittagszeit.

Die lauen Abende im Sternenglanz.

 

Wo war ich all die Tage, Wochen, ja Monate?

Wie ist es möglich, dass diese Jahreszeit einfach so an mir vorüber gezogen ist, ohne dass ich sie wirklich wahrgenommen habe?

 

Jetzt im späten Herbst wird mir erst bewusst, dass ich so vieles nicht gesehen habe.

Wie der wunderbare Herbst mit seinem einzigartigen Duft an mir vorbei gegangen ist.

Die volle Pracht der Farben sich langsam verabschiedet hat.

 

Die Sonne umstrahlt die Restfarben dieses Herbstes.

Sie tanzt um die Wette mit der Intensität der Farbe der Hortensie.

Eine Blüte voll in ihrer Farbe, die Andere neigt sich dem herbstlichen Gebrächen zu.

Ein Spiel zwischen sein und nicht sein.

 

Die Sonne ist nur noch einen Fussbreit entfernt. Einen Schritt und ich könnte die Wärme der Sonnenstrahlen einfangen, die Blüten der Hortensie greifen.

Einen Schritt und die Sehnsucht nach dem Sommer stillen.

Doch dieser Schritt bleibt mir verwehrt.

Eine Wolke verdrängt diese herrliche Sicht und wird eins mit dem Schatten in dem ich stehe.

 

Ich kann das gelebte Leben nicht zurückholen und die Sehnsucht nach dieser Zeit bleibt.

Die Sehnsucht nach der Helligkeit zu greifen bleibt ungenährt zurück.

Die Leichtigkeit des Sommers hat sich verzogen und die Schwere des Schattens hat sich in mir ausgedehnt.

 

Bald wird sich die Einsamkeit des Winters in meinem Herzen einnisten.

Die Einsamkeit und Sehnsucht nach der Kraft und der Intensität des Lebens.

Die Hand wird in den kalten Hauch der Jahreszeit greifen.

 

Ohne Leben, ohne Hoffnung und ohne Widerkehr für das Vergangene.

Traurigkeit nimmt mich in Anspruch.

Traurigkeit die Zeit ohne Wahrnehmung vertan zu haben.

Traurigkeit, dass andere Dinge wichtiger gewesen sind als die Aufmerksamkeit für den Moment.

 

Sich schuldig zu fühlen jeden Wimpernschlag verschenkt zu haben ohne nachzudenken.

Gedanken und Handlungen zu durchleben, die keine Prioritäten hatten.

Aufgeschoben, bis die Zeit durch die Finger rieselt und nicht mehr aufzuhalten ist.

Zeit die vergangen ist, Zeit die nicht mehr kommen wird.

 

Alles was zurück bleibt ist die Liebe zu dem was gewesen ist. Die Liebe zu dieser Leichtigkeit und Wärme.

Die Liebe hat diese Spuren im Herzen hinterlassen.

Spuren die nicht versiegen.

Spuren die die Sehnsucht aufkeimen lassen.

Spuren die auf der Suche nach dem Vergangenen sind.

 

Die Sonne ist einen Fussbreit entfernt. Die Wolke hat sich verzogen.

Ich kann den Schritt in die Sonne nicht wagen, doch die Sonne kommt zu mir und umhüllt mich mit ihrer Geborgenheit und Wärme.

Vielleicht nicht in diesem Herbst, vielleicht in irgendeinem anderen Herbst, wo diese Sehnsucht nach dem Zeitlosen gestillt wird.

 

Die Traurigkeit zaubert ein Lächeln hervor. Nicht heute, irgendwann wird meine Liebe wieder erwidert.

Wenn nicht hier, dann irgendwo.

©Domenica Meier-Durisch

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