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Du kannst fliegen

 

 

 

 

 

 

Es war wieder Frühling geworden und die Sonne erwärmte mit ihren ersten Strahlen die kalte Erde. Überall regte sich neues Leben, - in jeder Faser der Knospen war es zu spüren und überall war es zu riechen: der lange Winter war vorbei und endlich war der Frühling da!

An vielen Bäumen wuchsen schon Blätter und an einem Blatt des Weidenbaumes haftete ein Ei. In diesem Ei regte sich die kleine Raupe. Einige Zeit hatte sie sich in dieser Eihülle geschützt und geborgen gefühlt, doch nun, wo sie die warmen Sonnenstrahlen durch den Einwand hindurch spürte, wurde sie neugierig auf das Leben da draußen und es war ihr zu eng in dem Ei geworden. Und die kleine Raupe beschloss, das Ei zu verlassen, das solange ihr Zuhause gewesen war. Sie befreite sich aus dem Ei und schlüpfte hinaus ins Freie. Sie blinzelte in das Sonnenlicht und schaute sich um. Oh, wie war alles so hell und bunt! Sie sah die vielen anderen Blätter des Baumes, die grüne Wiese mit den vielen gelben Blumen, die wie kleine Sonnen leuchteten. Sie staunte über die blühenden Bäume und hörte die unzähligen Vögel zwitschern. Sie spürte die wärmenden Sonnenstrahlen auf ihrem haarigen Pelz. Was für ein Anblick! „Die ganze Welt liegt vor mir, ich will sie kennen lernen“ dachte die kleine Raupe und kroch vorwärts.

Alles war so aufregend und neu! Sie kroch staunend und glücklich von Blatt zu Blatt und freute sich an all den Farben und Geräuschen, an den vielen verschiedenen Lebensformen, die ihm begegneten: Gräser, Käfer, Blüten, Steine, Bäume - ach da war so vieles zu entdecken! Wenn sie Hunger verspürte, fraß sie sich durch ein Blatt oder durch eine Beere und sie wurde größer und größer. Dabei lernte sie auch andere Raupen kennen und sie freuten sich gemeinsam am Leben und genossen jede Stunde. Manchmal, wenn die Sonne mal für einige Stunden verschwand, war es kalt und dunkel, doch sie lernte, dass die Sonne immer wieder zurückkam. Viele Tage lebte die Raupe zufrieden und glücklich und sie genoss ihr Leben.

Doch eines Tages spürte sie, dass sich etwas veränderte. Sie spürte nicht mehr die Lebenskräfte wie einst in Frühlingstagen wurde müder und langsamer. Auch hatte sie keinen Hunger mehr und hörte auf zu fressen. „Was wird nun aus mir?“ dachte die Raupe und hatte Angst. War das alles gewesen? Ja, sie hatte vieles entdeckt und gesehen, sie hatte viel gegessen und war vielen Tieren begegnet, - doch nun schien sich das Leben zurückzuziehen, „War das alles,“ dachte die Raupe, „ist nun alles vorbei?“ Als sie sich sehr traurig und alleine mit ihren Gedanken fühlte, da setzte sie sich auf eine gelbe weiche Löwenzahnblume und weinte.

Die kleinen Raupentränen benetzten den Löwenzahn und die kleine Raupe ließ sich von der Blume sanft im Wind hin und her wiegen und ruhte sich aus. „Warum weinst du, kleine Raupe?“ fragte der Löwenzahn. Die Raupe räusperte sich und schluchzte: „Mein Leben ist bald aus. Ich spüre es. Es ist bald alles vorbei, was gerade erst so schön begonnen hat. War das wirklich alles? Werde ich jetzt sterben?“ Der Löwenzahn wiegte die traurige Raupe weiter und sprach sehr tröstlich zu ihr: „Kleine Raupe, weißt du denn nicht, dass es den Tod nicht gibt? Es gibt nur die Verwandlung, die Bewegung und die Veränderung. Das ist das Leben. Alles wandelt sich, nichts bleibt, - doch auch nichts geht verloren. Auch meine gelben Blütenblätter werden einmal welk werden und abfallen und es wird sich alles zurückziehen in mir. Es wird so aussehen, als sterbe ich, doch so ist es nicht. Ich werde eine ganz andere Lebensform haben, - ich werde eine Pusteblume sein. Und auch du wirst dich eines Tages verwandeln.

Es wird so aussehen, als wenn du stirbst. Denn du wirst diesen Körper da verlassen. Du wirst es kaum spüren. Das neue Leben, das nach deinem Raupenleben kommt, braucht diesen Körper nicht mehr, er wird nur eine leere Hülle sein. Du wirst sehen, danach wirst du viel leichter sein und brauchst nicht mehr an dieser Erde haften. Es wird noch viel schöner, als du es dir vorstellen kannst! Lass los, was du nicht mehr brauchst. Und hab Vertrauen!“

Die Raupe konnte sich kaum etwas von dem vorstellen, was der Löwenzahn ihm da erzählte, doch es war beruhigend und tröstlich, ihm zuzuhören und müde von allem Leben und Fühlen schlief sie ein. In den nächsten Tagen geschah etwas Ungewöhnliches. Aus ihrer Unterlippe kam ein feiner, seidener Spinnfaden hervor, mit dem sie ihren Körper zu umspinnen begann. Die Fäden erstarrten an der Luft und so umgab sie sich nach und nach mit einer festen Hülle, dem Kokon, die ihre alte Haut festhielt. Und dann gelang ihr etwas sehr Erstaunliches: Sie streifte die alte Haut ab und kam als Puppe daraus hervor. Dann zog sich das Leben der kleinen Raupe in ihr Innerstes zurück. Starr und leblos schien ihr neuer Körper an dem alten Weidenbaum fest zu haften. Die kleine Raupe wartete und wartete.

Sie erinnerte sich an all die schönen Tage, die sie erlebt hatte, und sie dachte traurig. „Das ist nun alles vorbei. Nie wieder werde ich so voller Energie und Freude leben können.“ Doch als es am schlimmsten war mit ihrer Traurigkeit, da dachte sie immer wieder an die Worte des Löwenzahns. Wenn er recht hatte und alles ist nur ein Übergang? Aber was kommt danach? Die kleine Raupe versuchte sich das vorzustellen, doch es gelang ihr nicht. Als sie viele Tage von dem Kokon umschlossen wartete, spürte sie oft Angst, aber manch mal auch Hoffnung. Vielleicht hatte der Löwenzahn ja recht...?! Eines Tages geschah etwas Unglaubliches. In dem Kokon regte es sich wieder, etwas ging in ihm vor und dann riss am Kopfende die Puppenhülle auf und ein ganz anderer Körper blinzelte daraus hervor ins Licht der Sonne.

Er schaute sich um und konnte es kaum fassen. Er lebte noch! Doch nichts war mehr wie vorher. Er war nun keine Raupe mehr, sondern ein Schmetterling! Mühsam zwängte er sich aus der engen Wohnung hinaus ins Freie. Sein neuer Körper glich kein bisschen dem alten Raupenkörper. Statt seinem haarigen Raupenpelz hatte er nun zarte Flügel in wunderschönen leuchtenden Farben! Sein neuer Körper festigte sich allmählich und seine Flügel dehnten sich, sie trockneten und wurden steif. Nichts war mehr wie früher und er bemerkte, dass er nun ganz leicht geworden war

 

„Flieg!“ rief ihm die Pusteblume zu, die sein Erstaunen und Zögern bemerkte, „du kannst fliegen!“ Er sehnte sich aufzusteigen. Und da breitete er seine Flügel aus und erhob sich von dem Baum, ganz selbstverständlich, als wüsste er seit Urzeiten, wie man fliegt. Er spürte, wie seine Flügel ihn trugen und er flatterte ausgelassen und fröhlich durch die Luft. Höher und höher flog er hinauf und ließ alles Erdige, Alte und Erlebte hinter sich. Er flog weiter und weiter und nichts und niemand konnte ihn mehr aufhalten...

 

 

Verfasser: Alwine Deege

Foto: Pixapay

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